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Chile bekommt keine neue Verfassung – vorerst

Niedrige Renten oder teure Bildung, ein mangelndes Gesundheitssystem oder soziale Ausgrenzung – lange rumorte es in der chilenischen Gesellschaft. Als 2019 massive Proteste an den Grundfesten des Landes rüttelten, öffnete die Regierung zusammen mit der Opposition den Weg für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die nun zur Wahl stand. Das Volk hat entschieden.

Chile bekommt keine neue Verfassung – vorerst

Rechazo: Das Volk lehnt den Verfassungsentwurf ab

Apruebo oder Rechazo – Zustimmung oder Ablehnung des neuen Verfassungsentwurfs? Hierum rang Chile in den vergangenen Monaten. Das Volk entschied sich in der Wahl vom 04.09.22 für die Ablehnung. Ob dies das finale Scheitern einer Bewegung ist oder eher ein ganz neuer Anfang, das ist eine Frage der Perspektive und politischen Ausrichtung. Festzuhalten bleibt zum einen, ein „weiter so wie bisher“ kann es nicht geben. Die Unzufriedenheit liegt tief, die Ursprünge der Proteste bleiben ungelöst. Zum anderen gibt es Grund zur Freude, ganz unabhängig des Ausgangs dieser Wahl. Denn mit wenigen Abstrichen ist der Prozess der – nun erstmal gescheiterten – Verfassungsgebung eine wirkliche Sternstunde der Demokratie. Das ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit – gerade auch mit Blick auf die südamerikanische Geschichte.

Übergabe des Verfassungsentwurfs an den chilenischen Präsidenten Gabriel Boric

Gobierno de Chile, CC BY 3.0 CL <https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/cl/deed.en>, via Wikimedia Commons

Das kaputte System als Ursprung des Protests

Eine Rückschau: Die aktuelle Verfassung des Landes stammt von 1980 und damit aus der Zeit der Diktatur unter Augusto Pinochet. Ob niedrige Renten oder die Privatisierung des Wassers, ob überbordende Zentralisierung, unbezahlbare Bildung oder soziale Ausgrenzung – viele Menschen in Chile sahen schon lange in der Verfassung die Hauptquelle der Konflikte des Landes. Als im Oktober 2019 die Metropreise der Hauptstadt geringfügig angehoben wurden, brach sich all die aufgestaute Wut gegenüber soziale Ungerechtigkeiten und den extremen Auswüchsen des neoliberalen Wirtschaftsmodells Bahn. Massive Proteste im ganzen Land rüttelten an den Grundfesten Chiles.

Die Wahl der Versammlungsgebenden Verfassung

Der damalige Präsident Sebastián Piñera lenkte ein. Zusammen mit Vertreter*innen der Opposition öffnete er den Weg für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Ausschlaggebend beteiligt war der einstige Studentenführer und linksgerichtete Politiker Gabriel Boric, der aktuelle Präsident von Chile. Daraufhin stellten im Oktober 2020 die Bürgerinnen und Bürger in einem Referendum den Verfassungskonvent zusammen. 154 Mitglieder*innen, paritätisch besetzt, mit festgeschriebenen Vertreter*innen indigener Minderheiten, schrieben während eines Jahres den Entwurf einer neuen Magna Charta. Um 499 Artikel wurde debattiert, gestritten, verhandelt.

Erste Sitzung der Verfassungsgebenden Versammlung

Cristina Dorador, CC BY 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/4.0>, via Wikimedia Commons

Die Zukunft des Landes auf dem Papier

Am 04. Juli 2022 schließlich wurde der fertige Entwurf vorgestellt. Dieser sah unter anderem das Recht auf Bildung und Wohnraum, Gesundheit und Abreibung vor. Die Privatisierung des Wassers sollte aufgehoben, das Rentensystem verstaatlicht, der politische Entscheidungsprozess umgestaltet werden. Juristische, medizinische, akademische Institutionen standen hierbei im Fokus der Dezentralisierung. Chile wurde als plurinational definiert, mit der Anerkennung indigener Völker, ihrer Traditionen, Strukturen, ihres Terrains, auch ihres Rechtssystems. Und die Umwelt galt es per staatlicher Verordnung zu schützen.

Vorstellung des Entwurfs der neuen Verfassung

Sfs90, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Das Ringen um den richtigen Weg

Meinungen gingen auseinander, ob der Verfassungsentwurf zu bürokratisch und zu schwammig ist, Demokratie einschränkt, eher spaltet als eint. „Es gibt nur ein Chile“ – das war das Unisono vieler, die die neue Verfassung ablehnten.  Manch Zuschauendem erschien der ganze Prozess zu schmutzig, zu „typisch politisch“. Die eine, der andere sorgte sich um sicher geglaubte Privilegien. Und viele mögen schlicht Angst haben vor einer Umverteilung, einem Systemwechsel, der Abkehr von dem traditionellen Gesellschaftsmodell. Jetzt hat die chilenische Bevölkerung eine Wahl getroffen. Gut möglich, dass noch einige Volksbefragungen folgen werden. Die Entscheidung für Rechazo birgt gewiss Konfliktpotential. Doch vielleicht mag es auch eine Chance zur Versöhnung sein. Die Suche nach einem soliden Gesellschaftsvertrag geht in jedem Fall weiter.